Reichs=Gesetzblatt.
Jahrgang 1913.
Nr: 46.
583
Reichs- und S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t s g e s e t z. S. 583 Gesetz zur Abänderung des Reichs-
militärgesetzes sowie des Krieges, betreffend Änderungen der Wehrpflicht, vom 11. Februar 1888.
S. 593. Gesetz, betreffend die Änderung zweier Reichstagswahlkreise. S. 597.
Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz. Vom 22. Juni 1913.
(Nr. 4263.)
Inhalt:
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher
Kaiser, König von Preußen etc.
verordnen im Namen des Deutschen Reichs, nach
erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des
Reichstags, was folgt:
§. 1.
[1] Jeder Bundesangehörige hat das Recht,
innerhalb des Bundesgebietes:
1) an jedem Orte sich aufzuhalten oder
niederzulassen, wo er eine eigene Wohnung oder
ein Unterkommen sich zu verschaffen im Stande
ist;
2) an jedem Orte Grundeigenthum aller Art zu
erwerben;
3) umherziehend oder an dem Orte des
Aufenthalts, beziehungsweise der Niederlassung,
Gewerbe aller Art zu betreiben, unter den für
Einheimische geltenden gesetzlichen
Bestimmungen.
[2] In der Ausübung dieser Befugnisse darf der
Bundesangehörige, soweit nicht das gegenwärtige
Gesetz Ausnahmen zuläßt, weder durch die
Obrigkeit seiner Heimath, noch durch die
Obrigkeit des Ortes, in welchem er sich aufhalten
oder niederlassen will, gehindert oder durch
lästige Bedingungen beschränkt werden.
[3] Keinem Bundesangehörigen darf um des
Glaubensbekenntnisses willen oder wegen
fehlender Landes- oder Gemeindeangehörigkeit,
die Niederlassung, der Gewerbebetrieb oder der
Erwerb von Grundeigenthum verweigert werden.
§. 2.
Wer die aus der Bundesangehörigkeit folgenden
Befugnisse in Anspruch nimmt, hat auf Verlangen
den Nachweis seiner Bundesangehörigkeit und,
sofern er unselbstständig ist, den Nachweis der
Genehmigung desjenigen, unter dessen
(väterlicher, vormundschaftlicher oder ehelicher)
Gewalt er steht, zu erbringen.
§. 3.
[1] Insoweit bestrafte Personen nach den
Landesgesetzen Aufenthaltsbeschränkungen
durch die Polizeibehörde unterworfen werden
können, behält es dabei sein Bewenden.
[2] Solchen Personen, welche derartigen
Aufenthaltsbeschränkungen in einem
Bundesstaate unterliegen, oder welche in einem
Bundesstaate innerhalb der letzten zwölf Monate
wegen wiederholten Bettelns oder wegen
wiederholter Landstreicherei bestraft worden
sind, kann der Aufenthalt in jedem anderen
Bundesstaate von der Landespolizeibehörde
verweigert werden.
[3] Die besonderen Gesetze und Privilegien
einzelner Ortschaften und Bezirke, welche
Aufenthaltsbeschränkungen gestatten, werden
hiermit aufgehoben.
§. 4.
[1] Die Gemeinde ist zur Abweisung eines neu
Anziehenden nur dann befugt, wenn sie
nachweisen kann, daß derselbe nicht
hinreichende Kräfte besitzt, um sich und seinen
nicht arbeitsfähigen Angehörigen den
nothdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen,
und wenn er solchen weder aus eigenem
Vermögen bestreiten kann, noch von einem dazu
verpflichteten Verwandten erhält. Den
Landesgesetzen bleibt vorbehalten, diese
Befugniß der Gemeinden zu beschränken.
[2] Die Besorgniß vor künftiger Verarmung
berechtigt den Gemeindevorstand nicht zur
Zurückweisung.
§. 5.
Offenbart sich nach dem Anzuge die
Nothwendigkeit einer öffentlichen Unterstützung,
bevor der neu Anziehende an dem
Aufenthaltsorte einen Unterstützungswohnsitz
(Heimathsrecht) erworben hat, und weist die
Gemeinde nach, daß die Unterstützung aus
anderen Gründen, als wegen einer nur
vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit nothwendig
geworden ist, so kann die Fortsetzung des
Aufenthalts versagt werden.
§. 6.
[1] Ist in den Fällen, wo die Aufnahme oder die
Fortsetzung des Aufenthalts versagt werden darf,
die Pflicht zur Uebernahme der Fürsorge
zwischen verschiedenen Gemeinden eines und
desselben Bundesstaates streitig, so erfolgt die
Entscheidung nach den Landesgesetzen.
[2] Die thatsächliche Ausweisung aus einem
Dorfe darf niemals erfolgen, bevor nicht entweder
die Annahme-Erklärung der in Anspruch
genommenen Gemeinde oder eine wenigstens
einstweilen vollstreckbare Entscheidung über die
Fürsorgepflicht erfolgt ist.
§. 7.
[1] Sind in den in §. 5. bezeichneten Fällen
verschiedene Bundesstaaten betheiligt, so regelt
sich das Verfahren nach dem Vertrage wegen
gegenseitiger Verpflichtung zur Uebernahme der
Auszuweisenden d. d. Gotha, den 15. Juli 1851,
sowie nach den späteren, zur Ausführung dieses
Vertrages getroffenen Verabredungen.
[2] Bis zur Uebernahme Seitens des
verpflichteten Staates ist der Aufenthaltsstaat zur
Fürsorge für den Auszuweisenden am
Aufenthaltsorte nach den für die öffentliche
Armenpflege in seinem Gebiete gesetzlich
bestehenden Grundsätzen verpflichtet. Ein
Anspruch auf Ersatz der für diesen Zweck
verwendeten Kosten findet gegen Staats-,
Gemeinde- oder andere öffentliche Kassen
desjenigen Staates, welchem der Hülsbedürftige
angehört, sofern nicht anderweitige
Verabredungen bestehen, nur insoweit statt, als
die Fürsorge für den Auszuweisenden länger als
drei Monate gedauert hat.
§. 8.
Die Gemeinde ist nicht befugt, von neu
Anziehenden wegen des Anzugs eine Abgabe zu
erheben. Sie kann dieselben, gleich den übrigen
Gemeindeeinwohnern, zu den Gemeindelasten
heranziehen. Uebersteigt die Dauer des
Aufenthalts nicht den Zeitraum von drei Monaten,
so sind die neu Anziehenden diesen Lasten nicht
unterworfen.
§. 9.
Was vorstehend von den Gemeinden bestimmt
ist, gilt an denjenigen Orten, wo die Last der
öffentlichen Armenpflege verfassungsmäßig nicht
der örtlichen Gemeinde, sondern anderen
gesetzlich anerkannten Verbänden
(Armenkommunen) obliegt, auch von diesen,
sowie von denjenigen Gutsherrschaften, deren
Gutsbezirk sich nicht in einem
Gemeindeverbande befindet.
§. 10.
Die Vorschriften über die Anmeldung der neu
Anziehenden bleiben den Landesgesetzen mit der
Maaßgabe vorbehalten, daß die unterlassene
Meldung nur mit einer Polizeistrafe, niemals aber
mit dem Verluste des Aufenthaltsrechts (§. 1.)
geahndet werden darf.
§. 11.
[1] Durch den bloßen Aufenthalt oder die bloße
Niederlassung, wie sie das gegenwärtige Gesetz
gestattet, werden andere Rechtsverhältnisse,
namentlich die Gemeindeangehörigkeit, das
Ortsbürgerrecht, die Theilnahme an den
Gemeindesitzungen und der Armenpflege, nicht
begründet.
[2] Wenn jedoch nach den Landesgesetzen durch
den Aufenthalt oder die Niederlassung, wenn
solche eine bestimmte Zeit hindurch
ununterbrochen fortgesetzt worden, das
Heimathsrecht (Gemeindeangehörigkeit,
Unterstützungswohnsitz) erworben wird, behält
es dabei sein Bewenden.
§. 12.
[1] Die polizeiliche Ausweisung
Bundesangehöriger aus dem Orte ihres
dauernden oder vorübergehenden Aufenthalts in
anderen, als in den durch dieses Gesetz
vorgesehenen Fällen, ist unzulässig.
[2] Im Uebrigen werden die Bestimmungen über
die Fremdenpolizei durch dieses Gesetz nicht
berührt.
§. 13.
Dies Gesetz tritt am 1. Januar 1868. in Kraft.
Urkundlich unter Unserer
Höchsteigenhändigen Unterschrift und
beigedrucktem Bundes-Insiegel.
Gegeben Schloß Blankenburg, den 1.
November 1867.
(L. S.) Wilhelm.
Gr. v. Bismarck-Schönhausen.